Ich weiß nicht, ob man es Ihnen schon gesagt hat, aber Kassel ist eine wunderschöne Stadt. Wir spazieren nun schon fast eine Woche durch die gepflegten Straßen, sehen die vielen Details, das Engagement, die durchdachte Gestaltung einer nachhaltigen Stadt, die die Gemeinschaft ins Zentrum stellt. Ich sage Ihnen: Sie können stolz auf Ihre Stadt sein.
Heute feiern wir 35 Jahre der Zusammenarbeit zwischen Ramat Gan und Kassel – parallel zum 70-jährigen Bestehen der documenta. In einer Welt, die noch immer die Wunden des Zweiten Weltkriegs leckte, trat Arnold Bode mit einer außergewöhnlichen Vision hervor: Nicht nur moderne Kunst zeigen, die vom dunklen Regime unterdrückt wurde, sondern Kassel – eine zerstörte Stadt – in ein internationales Kunstzentrum zu verwandeln.
Als stellvertretender Bürgermeister von Ramat Gan und zugleich Vorsitzender der Ramat Gan Museen sehe ich aus nächster Nähe, wie Kunst und Kultur gerade aus Krisen heraus eine universelle Sprache entwickeln können – eine verbindende, heilende Kraft, eine freie und mutige Stimme, die sich nicht unterdrücken lässt. Die hier entstandene Kunst wurde zur Avantgarde, zum Motor der Innovation und zum offenen Dialog über die brennenden Fragen unserer Zeit. Die documenta, heute eines der bedeutendsten Kunstereignisse der Welt, ist lebendiger Beweis dafür, dass Kreativität und kultureller Dialog Mauern überwinden können.
Die Grundlagen der Partnerschaft – vom Traum zur Realität
Im Rahmen dieser glanzvollen Geschichte feiern wir 35 Jahre Städtefreundschaft. Die Partnerschaft zwischen Ramat Gan und Kassel entstand nicht im luftleeren Raum. Sie wurde Ende der 1980er Jahre von visionären Menschen gegründet – mutige Bürgermeister, Kulturschaffende, Unternehmer und Intellektuelle, die Brücken über die komplexe Geschichte zwischen Deutschland und Israel bauten.
Was als vorsichtiger Versuch begann, wurde zu einer tiefen, bedeutungsvollen Verbindung. Man sagt, dass Paare, die lange zusammenleben, sich einander annähern. Vielleicht gilt das auch für Städte. Kassel und Ramat Gan haben vieles gemeinsam: Beide zählen etwa 200.000 Einwohner. In beiden Städten hört man auf den Straßen Russisch und Arabisch – und bei mir zu Hause Türkisch, denn meine Frau kommt aus Istanbul. Beide Städte beherbergen Universitäten. Und auch bei uns wachsen die Museen in Größe und Bedeutung – ebenso wie die künstlerische und kulturelle Aktivität.
Wir stellen uns denselben Fragen: Wie wird unsere Stadt CO₂-neutral? Wo liegen die Grenzen der künstlerischen Freiheit? Und wann darf oder muss Kunst begrenzt werden? Beide Städte standen vor kontroversen öffentlichen Debatten darüber. Doch jenseits dessen entdeckten wir tiefere Gemeinsamkeiten: Demokratie, Pluralismus, Toleranz, Achtung der Menschenrechte.
In Kassels Straßen fühle ich mich nach wenigen Tagen bereits zugehörig – das ist nicht selbstverständlich. Nur eine Stadt, die einen zentralen Platz einem Denkmal widmet, das in vier Sprachen sagt: „Ich kam als Fremder, und ihr habt mich aufgenommen“, meint es wirklich so. Dieser Satz – aus der Perspektive des Fremden gesprochen – ist zugleich ein stiller Appell: Der Fremde, der aufgenommen wird, soll diese Werte weitertragen. Auch im Judentum wird das 36-mal geboten: „Liebe den Fremden, denn ihr wart Fremde in Ägypten“ – das ergänzt den anderen zentralen Satz: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
Gemeinschaft mit Haltung – die jüdische Gemeinde Kassel
Ein unverzichtbarer Teil dieser Stadt ist die Jüdische Gemeinde – deutsch-jüdisch, lebendig, erinnernd. Ilana Katz, Elena Padva, Wolfgang Schwerdtfeger, Kristina, Katrin, Boris und viele andere leisten bewundernswerte Arbeit: Sie erhalten Synagogen, erinnern an ausgelöschte Gemeinden, erzählen die menschlichen Geschichten hinter den Zahlen und pflegen enge Beziehungen zu Israel – auch mit Delegationen, Sicherheit und gelebter Solidarität. All das ist ein moralisches Fundament der Partnerschaft.
Das zeigt: Erinnerung kann zu Verbindungen führen, nicht zu Hass. Die jüdische Gemeinde und ihre Partner in Kassel sind ein leuchtendes Beispiel: Man kann die Vergangenheit ehren und gleichzeitig eine Zukunft der Zusammenarbeit und Menschlichkeit bauen.
Kassels Geist – was diese Stadt besonders macht
Was mich am meisten berührt hat: der Geist der Gemeinschaft. Eine Stadt, in der Menschen sich kümmern – umeinander, um Architektur, um Kultur, um Gäste. Die Kunstwerke im öffentlichen Raum, das Engagement für Nachhaltigkeit, der lokale Stolz – das alles zeigt: Hier lebt eine bewusste Bürgerschaft. Und genau das ist die Grundlage unserer Städtepartnerschaft: Eine Stadt ist nicht nur aus Beton, sie lebt durch Menschen, die füreinander da sind.
Die Herausforderungen unserer Zeit: Komplexität statt Vereinfachung
Wir leben in schwierigen Zeiten – das ist offensichtlich. Die Stimmen, die wir hören – in Europa, in Israel, auch hier draußen [Kundgebung vor dem Rathaus] – sind laut und manchmal schmerzhaft. Aber Kritik ist wichtig. Sie muss geäußert werden, argumentativ, dialogisch – nie gewalttätig. Sie darf niemals das Subjekt auslöschen.
In Israel, wie auch anderswo, ist die politische Realität komplex. Viele, die draußen demonstrieren, wollen keinen Dialog. Sie sehen uns als homogene Masse – und lehnen auch mich ab, obwohl ich offen bin für ehrliche Gespräche. Unsere bloße Existenz passt nicht in ihr Weltbild. Das ist gefährlich – und jede liberale Demokratie muss diese Gefahr erkennen.
Israels Gesellschaft ist nicht einheitlich – es gibt viele Stimmen, viele Kämpfe. Auch ich gehe jede Woche demonstrieren: Gegen den Krieg, für die Rückkehr der Geiseln, für Demokratie, gegen Rassismus, gegen religiösen Zwang.
Auch in Deutschland kennt man diesen Kampf: Demokratie gegen Extremismus. Wer nur nach außen kämpft, vergisst manchmal, nach innen zu schauen. Der Hass kommt oft von innen – gespeist von Nationalstolz und Ausgrenzung. Hass ist Hass– und wir müssen ihn gemeinsam bekämpfen.
Besonders heimtückisch ist der liberale Paradox: Wenn unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit eine ganze Gruppe delegitimiert wird – dann sägen wir an dem Ast, auf dem unsere Demokratie sitzt. Demokratie zu verteidigen ist keine Option – es ist unsere Pflicht.
Städtediplomatie gegen das Chaos
Die Geschichte verläuft nicht linear. Kleine politische Veränderungen können große Rückschritte bringen. In einer Welt voller Populismus brauchen wir demokratische Allianzen. Städtepartnerschaften wie die zwischen Kassel und Ramat Gan sind ein demokratisches Gegenmittel.
Denn wir arbeiten direkt zusammen: Bildung, Kunst, Innovation, Kultur. Wenn Jugendliche aus Ramat Gan bis zu vier Wochen mit deutschen Schülern verbringen, wenn Künstler aus Kassel in Ramat Gan ausstellen, wenn Unternehmer gemeinsame Projekte starten und wenn wir Politiker uns austauschen – dann entsteht echtes Verständnis.
Dr. Sven Schoeller, Sie haben erkannt, wie wichtig Kultur und Kunst für diese Beziehung sind. Ich freue mich sehr, dass Sie unser Partner sind. Ich bin sicher: Was mit der engagierten Kuratorin Sari Golan begann, wird weiter wachsen. Danke für Ihre Gastfreundschaft – wir freuen uns auf einen Gegenbesuch aus Kassel in Israel!
Ein Blick nach vorn
Wir feiern 35 Jahre – und sollten zugleich an die nächsten 35 denken. Kassel zeigt, wie Innovation und Tradition, Gegenwart und Erinnerung, Offenheit und Gemeinsinn zusammengehen können. Das nehmen wir mit nach Ramat Gan.
Wie vertiefen wir unsere Partnerschaft? Wie lehren wir die nächste Generation Toleranz und Zusammenarbeit? Wie schaffen wir lebenswerte Städte? Die Antwort liegt in diesem Raum: In der jüdisch-deutschen Gemeinschaft, in der Kunstszene, in den Stadträten, Lehrkräften, Bürgerinnen und Bürgern.
Zum Schluss: Ich bete für die Rückkehr aller Geiseln, das Ende des Krieges und die Heilung aller Verwundeten – seelisch wie körperlich. Und für einen echten, stabilen Frieden – in Israel und überall, wo Gewalt herrscht.
Lassen Sie uns gemeinsam eine bessere Zukunft bauen.
.בואו נבנה יחד עתיד טוב יותר
Im Namen der Stadt Ramat Gan und unseres Bürgermeisters Carmel Shama HaCohen danke ich Ihnen für Ihre großartige Gastfreundschaft.
Vielen Dank – רבה תודה – auf Wiedersehen!
Roi Barzilay
Stellvertretender Bürgermeister von Ramat Gan, Vorsitzender der Ramat Gan Museen
Die Rede wurde gehalten beim Festakt am 12.6.2025 im Rathaus Kassel. Für die Veröffentlichung wurde sie übersetzt, geringfügig gekürzt und sinngemäß angepasst. Fotos: Vorstand der DIG Kassel.
Ein ausführlicher Rückblick zum israelischen Besuch aus Kassels Partnerstadt Ramat Gat ist hier auf unserer Website zu finden, mit allen emotionalen Höhen und Tiefen, die insbesondere dieser Tag mit sich brachte – durch Proteste und Kritik von demonstrierenden Gruppen vor dem Rathaus.









